Marie und das Ulmer Münster

  • Wo fängt dein Himmel an?

      Auch richtig große Dinge kann man berühren, mit Händen umschließen, die Fingerspitzen darüber wandern lassen, auf dem Arm tragen, und dann passen sie schließlich ins eigene Herz.

  • Traumland ist abgebrannt

    „Du bist genau wie ich“, zischt er. „Ich gehöre in die Welt der Träume, nur dort bin ich am Leben, nur dort kann ich meine Flügel ausbreiten. Vor mir kannst du es ruhig zugeben, du weißt eigentlich nicht, wann deine Träume ihren Anfang nehmen und wann sie enden, deshalb träumst du auch mit offenen Augen.“ Seine lispelnde Stimme holt mich zurück. „Weißt du eigentlich, dass du schon eine gute halbe Stunde hier stehst und mich anstarrst. Ich mag das nicht so gerne.“ Sein Atem steigt in meine Nase, er riecht verbrannt, mein Gesicht wird warm davon, es tut gut. „Ich weiß, entschuldigung, hab‘ ich gar nicht gemerkt, willst du ein…

  • Und fürchtet den Nachhall

    „Hei, pssst, bist du noch da oder haben sie dich mitgenommen?“, ich bücke mich über das Absperrband und hebe die Plane ein wenig hoch. Seine Füße sehe ich, den Saum seines Gewands. Also da ist er jedenfalls noch. „Wow, sie machen ja ganz schön Tammtamm um dich. Hättest du dir das jemals träumen lassen vor fünfhundert Jahren? Martin, das wird definitiv dein Jahr. Ich sag dir mal was, die Buchmesse war voll von Büchern über dich. Schlaue Leute haben sich schlaue Gedanken über dich gemacht. Ich würde sagen, du hast es geschafft.“ Es ist ein Freitag Vormittag, draußen auf dem Münsterplatz wird schon der Weihnachtsmarkt aufgebaut, die große Tanne steht…

  • Sein Gesicht, wie das Aussehen eines Blitzes

    „Du musst kämpfen“, mit diesen Worten begrüsst er mich heute. Dabei hat er mich noch nicht mal gesehen, denn ich stehe hinter ihm, in seinem Rücken und ich bin leise gegangen, ich habe Turnschuhe an, also kann er meine Schritte nicht gehört haben.„Lass mich bloß in Ruhe damit“, sag‘ ich in den Raum hinein und laufe unter ihm hindurch. Und ich drehe mich nicht um zum ihm, ich will nicht, dass er mir ins Gesicht sieht. Keine Ahnung, ob er jeden so anquatscht, mit mir macht er das jedenfalls fast immer. Ich scheine ein leichtes Opfer zu sein. Manchmal geh‘ ich deshalb extra über eines der Seitenschiffe nach vorne, er…

  • Dunkellicht

    Es ist Viertel nach Neun, ein Mittwoch Abend. Keineswegs ist es so, dass ich das erste Mal nachts im Münster bin, also jetzt mal von der Tagezeit her gesehen, aber, und das ist das Besondere, ich bin das erste Mal im gänzlich unbeleuchteten Münster. In meiner Hand halte ich eine Taschenlampe und die Anderen, die dabei sind, machen das auch. Niemand macht sie an, ich auch nicht, zunächst jedenfalls. Mit Durchschreiten der Eingangspforte schluckt mich der Bau, schließt sein Maul schmatzend hinter mir, transportiert mich stockend weiter und urplötzlich befinde ich mich mitten in seinem Bauch. Und doch scheint es so zu sein, dass ich mich, auch wenn die Situation…