Dunkellicht

Kirchenschiff

Es ist Viertel nach Neun, ein Mittwoch Abend. Keineswegs ist es so, dass ich das erste Mal nachts im Münster bin, also jetzt mal von der Tagezeit her gesehen, aber, und das ist das Besondere, ich bin das erste Mal im gänzlich unbeleuchteten Münster. In meiner Hand halte ich eine Taschenlampe und die Anderen, die dabei sind, machen das auch. Niemand macht sie an, ich auch nicht, zunächst jedenfalls.

Mit Durchschreiten der Eingangspforte schluckt mich der Bau, schließt sein Maul schmatzend hinter mir, transportiert mich stockend weiter und urplötzlich befinde ich mich mitten in seinem Bauch. Und doch scheint es so zu sein, dass ich mich, auch wenn die Situation eine andere Deutung zuließe, mehr von ihm nähre, als er sich von mir, braucht er mich doch nicht. Ich kann die Dicke der Mauern spüren, nicht etwa weil ich sie mit meinen Händen berühre, sondern vielmehr weil sie die Außenwelt zwar nicht gänzlich aussperren, aber ihr doch für einen Moment jedenfalls die Dringlichkeit nehmen. Und ich meine das noch nicht einmal geistig-esoterisch, sondern ich spüre mich mit einem Mal einfach mehr, spüre wie ich meine Schritte auf den gekachelten Steinboden setze, spüre wie sich mein Fuß abrollt, wie ich stehe, spüre das Rascheln meiner Jacke, höre es nicht nur und ich spüre das Kitzeln, das sich in meinem Bauch aufpumpt. Es ist schön hier, unglaublich schön, in der Nacht.

Ich setze mich, mein Blick geht nach vorne in Richtung Chor, meine Augen haben Mühe den Linien und Kanten zu folgen, die mit der Dunkelheit zu verschmelzen beginnen, driften ab zur Kanzel, die sich links von mir befindet, mein Hinschauen klettert an ihr empor, richtet sich dann lange Zeit einfach nur nach oben und beginnt in gut einundvierzig Metern Höhe einen wilden Tanz zu vollführen. Während ich nämlich hier unten schon von der nächtlichen Heimlichkeit umgeben bin und mich mehr und mehr in ihr aufzulösen beginne, eins werde mit den Pfeilern und den Holzbänken, bündelt sich da oben im Kirchenschiff das Licht der Nacht. Die Fenster scheinen als Brennglas zu agieren, sie packen das Dunkellicht und tauchen die Decke in ein taghelles Sonnenleuchten. Fast unwirklich wirkt das und ich ertappe mich dabei, wie ich um mich schaue, um zu sehen, ob jemand vielleicht seine Supermeglight angeknipst hat, damit heimlich hinaufleuchtet und es deshalb da oben so strahlt. Aber nein, niemand. Dann mache ich meine Taschenlampe eben einfach mal an. Mit einem Schlag wird es um mich herum noch dunkler, der Lichtkegel lässt mich und alles in meiner direkten Umgebung gänzlich verschwinden. Ich leuchte den ungläubigen Thomas an, leuchte ihm direkt ins Gesicht, er kneift die Augen zusammen und ich frage mich, ob es ihm jeden Tag so geht, wie mir gerade. Und da sehe ich wie er den Kopf in den Nacken legt und verzückt blinzelt. Alles klar, er wartet darauf, jeden Abend auf‘s Neue.

Wir gehen weiter, ich halte die Taschenlampe nach unten, leuchte auf den Boden vor mir und sehe damit nur so weit, wie ich meinen nächsten Schritt mache. In der Nacht verliert sich das Empfinden für Entfernung und Zeit. Ich trabe der Gruppe hinterher, was der Münsterführer erzählt, das höre ich zwar, aber mein Kopf macht einen bizarren Mix daraus. Schließlich lasse ich mich im Chor auf eine Bank fallen, von den Worten nehme ich nur noch die Melodie wahr und ich falle hinab in meine Sinne. Die Fenster vor mir brillieren nur zart, als wenn sie ihre Farben verbergen wollten. Ob sie einen Teil ihrer Schönheit zurückgelassen haben, als sie Scheibe um Scheibe ausgebaut und wegtransportiert wurden, um vor der drohenden Zerstörung geschützt zu werden, damals, im zweiten Weltkrieg. Ob ihre Tränen darüber die Farben haben verblassen lassen. Eigentlich nicht, denke ich, ich kenne ihr Leuchten ja bei Tage, wenn sie von der Morgensonne durchdrungen werden. Ich ziehe das Tuch um meinen Hals fester. Von meiner rechten Seite dringt das Jammern der Frauen in mein Ohr, von links die Worte der Männer, wie sie befehlen, harrsche Worte, schnell gesprochen, Verzweiflung, Hass, Ende. Es blitzt, ein ohrenbetäubender Knall, ich ducke mich, da oben ist die Bombe eingschlagen, ich kann die Stelle sehen. Der Staub brennt in meinen Augen. Um die Angst zu vertreiben, mache ich meine Taschenklampe wieder an und leuchte in die Gesichter der Helferlein im Chorgestühl . „Bäh“, macht einer und streckt mir seine Zunge heraus. „Bäh“, mach ich zurück und schneide eine Grimasse.

Dann ist es vorbei, wir müssen gehen, ich muss gehen, ich verlasse das Münster als Letzte durch das Seitenportal und kurz überlege ich mir, ob es auffallen würde, wenn ich mich einfach hinter eine der Säulen stellen würde und mich einschließen lassen würde. Ich wäre gerne noch die ganze Nacht geblieben, alleine.

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Ein Kommentar

  • Ronny

    So eine Nachtführung im Münster muss toll sein. Deine Worte spiegeln das jedenfalls wider. Danke fürs mitnehmen und neugierig machen. 🙂 Schön geschrieben!

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