Marie und das Ulmer Münster

  • Liebesstumm

      Immer wenn ich ihr begegne, frage ich mich, wie es wirklich dazu gekommen ist. Müde hatte sie sich an einem Abend an die Säule gelehnt, es war schon fast dunkel, ihr Körper hatte gefroren, ihr Geist gehungert. Unter der Berührung ihres Rücken war der Stein weich geworden, hatte seine Arme zart um sie gelegt, sie an sich gezogen und dann war sie mit ihm verschmolzen. Es sieht für mich nicht so aus, als habe sie sich dagegen gewehrt, auch wenn ich durchaus schon mal den Eindruck hatte, dass sie kurz davor war, sich von ihm zu lösen, um an mir vorbei in Richtung Ausgang zu laufen. Ein paar Farben…

  • Von Emporkömmlingen …

    „Ich hatte Angst, dass du mich nicht mehr erkennen würdest, aber nun bin ich es, die dich nicht mehr erkennt.“ – „Was sagst du da?“, ich bleibe stehen, schaue um mich, niemand da außer mir, also hat er mich gemeint. Heute war ich das erste Mal ganz alleine auf dem Münsterturm. Also ich bin schon öfter alleine hochgestiegen, aber heute bin ich niemandem dabei begegnet. Niemand hat mich überholt, als ich die Stufen hinaufgelaufen bin, niemand war oben, als ich in alle Richtungen hinuntergeschaut habe und beim Absteigen hat sich auch niemand an mir vorbeigedrängt, ich habe noch nicht einmal den Hall anderer Schritte vernommen. Eigenartigerweise wird es mir beim…

  • Rutschpartie

    Ich hab dem Impuls noch niemals nachgegeben, aber gespürt habe ich ihn schon öfter. Unterschiedlich stark, ab und an leise rufend, mitunter brüllend gar in meinen Gehörgängen, so laut sogar, dass ich manchmal die Finger in die Ohren stecken musste, um das Geschrei einigermaßen zum Schweigen zu bringen. Wenn ich im Mittelgang des Münsters stehe, meinen Blick nach oben in Richtung Orgel schicke oder entgegengesetzt den Altar suchend, dann würde ich alles gerne auch mal aus einer anderen Perspektive betrachten. Ich würde mich gerne auf den weiß-braunen Boden des Mittelschiffs legen, die Kühle des Boden an meinem Rücken spüren, gleichzeitig fühlen wie der Boden mich hält, meinen Kopf trägt, darauf…

  • Gedankenaustausch

    Sie packt mich am Rocksaum, zieht daran. Ich schieb‘ ihre Hand weg. „Lass das gefälligst“, mit einem Ruck dreh ich mich zu ihr um. Sie kichert, dreht ihren Kopf, schaut um sich, dann beugt sie sich vor. „Bleib doch mal stehen, ich hab dich schon so oft hier geseh’n.“ „Ja“, sag ich, „kann schon sein. Ich komm‘ immer mal wieder.“ „Zu mir kommst du aber nie“. „Warum auch“, sag‘ ich. Langsam atmet sie aus, macht ihren Mund rund und pustet mir ins Gesicht. „Boh, was soll das denn nun?“ Wieder erklingt ihr helles Gegecker, fliegt an die Decke empor, hangelt sich durch die Gewölbe, um kurz darauf, an den Rillen…

  • Keine Kleinigkeiten

    Ich habe einen Blick für Details, andere würden vielleicht sagen, es sind Kleinigkeiten, die mich oft anpacken, unwichtig in ihrer Bedeutung. Mit Absicht mache ich das nicht, meine Wahrnehmung scheint so zu funktionieren, zumindest manchmal. Vielleicht ist es aber auch Unkonzentriertheit oder Langeweile, die mich überkommt, wenn ich des großen Ganzen überdrüssig werde. Ich kann im Kino sitzen und einen ganzen Film über darauf warten, dass ein Schauspieler ein bestimmtes Wort nocheinmal sagt, weil es mir, als er es das erste Mal ausgesprochen hat, so gut gefallen hat, sei es der Klang der Wortes ansich, sei es die Färbung seiner Stimme, mit der er nah an mich herangetreten ist und…