Von Emporkömmlingen …

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„Ich hatte Angst, dass du mich nicht mehr erkennen würdest, aber nun bin ich es, die dich nicht mehr erkennt.“ – „Was sagst du da?“, ich bleibe stehen, schaue um mich, niemand da außer mir, also hat er mich gemeint.

Heute war ich das erste Mal ganz alleine auf dem Münsterturm. Also ich bin schon öfter alleine hochgestiegen, aber heute bin ich niemandem dabei begegnet. Niemand hat mich überholt, als ich die Stufen hinaufgelaufen bin, niemand war oben, als ich in alle Richtungen hinuntergeschaut habe und beim Absteigen hat sich auch niemand an mir vorbeigedrängt, ich habe noch nicht einmal den Hall anderer Schritte vernommen. Eigenartigerweise wird es mir beim Hochlaufen auf den Münsterturm immer schwindliger als beim Hinunterlaufen, wo ich doch, wie wahrscheinlich die Meisten, in diese Richtung viel schneller unterwegs bin. Mein Blick ruht beim Hochlaufen mehr auf den Stufen, hüpft manchmal, lässt eine Stiege aus, aber er ist nach unten gerichtet, obwohl es doch eigentlich nach oben geht. Ich schaue, wo ich meine Füße hinsetze, oft gleitet meine Hand dabei sogar an der Mauer entlang, als wenn sie Halt sucht und natürlich gehe bevorzugt am äußeren Rand, weil da die Länge der Tritte angenehmer ist und ich die Schritte besser setzen kann. Beim Hinunterlaufen dagegen bin ich oft beschwingt, finde es schön, den Rhythmus der Stufenneigung zu übernehmen und habe noch nicht einmal Angst davor zu fallen, auch festhalten tu ich mich dabei nie. Vielleicht wird mir deshalb nicht schwindelig.

„Wie hast du das gemeint?“, frag‘ ich, „ich bin schon oft an dir vorbeistiegen, ich kenn dich sogar ohne deine Bemalung.“

„Das weiß ich schon, aber du hast mich immer nur beim Hinunterlaufen bemerkt, so wie jetzt, nicht ein einziges Mal, wenn du hochgegangen bist.“ Er zwinkert, die gelben Kreise um seine Augen erhellen sein Gesicht wie bei einer Leuchtreklame, „aber mach dir nichts daraus. Es ist normal, beim Emporsteigen sehen die Leute mich nicht, ihr Blick umfängt nur sie selbst, ihre Aufmerksamt reicht nicht weit, endet an ihren eigenen Schritten. Beim Hinuntersteigen dann, wenn sie Angst haben auszurutschen, sich ihre Füße in den glatten Sohlen angstvoll gegen die Kanten der abgetretetenen Stufen stemmen, ihre Fingerkuppen vom Festkrallen an den Steinen blutig werden, wenn sie das Unvermeidliche verhindern wollen, wenn sie jammern und flehen, dann erst nehmen sie mich wahr, dann erst freuen sie sich über meine Worte, haben Zeit für mich und schauen mir in die Augen. Bei dir war das nie anders. Aber heute bist du als eine Andere hinuntergekommen. Wenn du nächste Mal kommst, dann werde ich dich sofort erkennen.“

Nachdenklich schaue ich auf meine Fingerkuppen. „Ich dich auch“, denke ich mir, schließe die Augen und renne die verbleibenden Stufen blind hinunter.

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