Liebesstumm
Immer wenn ich ihr begegne, frage ich mich, wie es wirklich dazu gekommen ist.
Müde hatte sie sich an einem Abend an die Säule gelehnt, es war schon fast dunkel, ihr Körper hatte gefroren, ihr Geist gehungert. Unter der Berührung ihres Rücken war der Stein weich geworden, hatte seine Arme zart um sie gelegt, sie an sich gezogen und dann war sie mit ihm verschmolzen. Es sieht für mich nicht so aus, als habe sie sich dagegen gewehrt, auch wenn ich durchaus schon mal den Eindruck hatte, dass sie kurz davor war, sich von ihm zu lösen, um an mir vorbei in Richtung Ausgang zu laufen. Ein paar Farben hatte der Bruch ihr gelassen, wohl damit sie nicht übersehen, nicht gänzlich unsichtbar würde. Und doch, wie lange hat es wohl gedauert, bis niemand mehr das Wort an sie gerichtet hat, bis niemand ihr mehr Fragen gestellt hat, weil sich niemand an ihre Stimme erinnert hat.